Leaky Pipeline in der Wissenschaft

Ergebnisse einer aktuellen Untersuchung zum Stagnieren des Frauenanteils bei Professuren

Über die Gleichheit der Karrierechancen von Frauen und Männern wird viel diskutiert. Eine aktuelle Studie liefert zum Phänomen Leaky Pipeline in der Wissenschaft überraschende Ergebnisse.

Als Leaky Pipeline wird der Sachverhalt bezeichnet, dass im Karriereverlauf der Frauenanteil mit jeder zusätzlichen Qualifikationsstufe abnimmt. Das ist in der Wissenschaft nicht anders als in Wirtschaft und Verwaltung. In den deutschsprachigen Ländern erreichen die Frauen bei den Bachelor-Abschlüssen an den Universitäten mittlerweile deutlich über 50 Prozent. Bei den ordentlichen Professuren bricht der Frauenanteil jedoch auf breiter Front ein (Deutschland 22 Prozent, Österreich 28 Prozent, Schweiz 23 Prozent).

Während der Frauenanteil bei den Bachelor- und Master-Abschlüssen, den Doktoraten und den Assistenzprofessuren stetig gewachsen ist, blieb er bei den ordentlichen Professuren im letzten Jahrzehnt in der Schweiz – anders als in Deutschland und Österreich – nahezu gleich. Wie nachhaltig dieser Trend in Deutschland und Österreich ist, wird sich in den nächsten Jahren zeigen.

Insgesamt ergibt sich weltweit ein ähnliches Bild: Eine Untersuchung von mehr als 1 000 Hochschulen in 80 Ländern durch das Centrum für Hochschulentwicklung (CHE) zeigt ebenfalls eine deutliche Schere. Der große Fortschritt, den wir in den letzten Jahren bezüglich der Geschlechtergleichheit an den Universitäten verzeichnen konnten, hört nach dem Doktorat auf. Danach ist es aus mit der Gleichheit der Karrierechancen. Was sind die Ursachen?

Leaky Pipelines in unterschiedlichen Fächern

In der Literatur wird eine Reihe von Gründen diskutiert: Traditionelle Geschlechternormen, Mutterschaft, impliziter oder expliziter Sexismus, angeblicher Mangel an Brillanz und Genialität bei Frauen. Hinzu kommt der sogenannte Matilda-Effekt, wonach Professorinnen eher nach ihrem Aussehen denn nach der Qualität ihrer Arbeiten beurteilt werden. Gibt es noch weitere Faktoren? Wirken die Faktoren in allen Fächern in gleicher
Weise?

Zur Beantwortung dieser Fragen haben wir die Leaky Pipelines in unterschiedlichen Fächern an der Universität Zürich und der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich für die Jahre 2013 bis 2020 respektive 2006 bis 2020 analysiert. Ausgegangen sind wir von der einflussreichen „token“-Hypothese, welche von Rosabeth Moss Kanter im Jahr 1977 in ihrem Buch Men and Women of the Corporation aufgestellt wurde. Kanter konstatiert, dass ein Minderheiten-Status innerhalb einer Gruppe generell zu Karriere-Nachteilen führt. Mitglieder einer Minderheit werden als Symbol („token“) ihrer ganzen Gruppe angesehen, stehen unter ständiger Beobachtung,
werden häufig diskriminiert und sind weniger in Netzwerke eingebunden.

Ihre Chancen verbessern sich gemäß dieser Hypothese erst dann, wenn der Minderheiten-Status reduziert wird. Es gibt für diesen Zusammenhang vielfältige empirische Belege außerhalb der Wissenschaft. Wendet man die „token“-Hypothese“ auf die Universität an, müssten Frauen die niedrigsten Karrierechancen dort haben, wo ihr Anteil zu Beginn des Studiums niedrig ist, etwa in den Fächern Informatik oder Elektrotechnik. Umgekehrt wäre in Fächern mit einem hohen Frauenanteil eine wenig ausgeprägte Leaky Pipeline zu erwarten, etwa in der Veterinärmedizin oder der Psychologie.

Abbildung: Leaky Pipeline in der Fachrichtung Veterinärmedizin an der Universität Zürich (links) und im Fach Elektroingenieurwesen an der ETH Zürich (rechts) im Jahr 2020. Leak = Verlust an Frauen über die Qualifikationsstufen in Prozentpunkten (pp).
Quelle: eigene Darstellung.

Unsere Untersuchung hat jedoch völlig unerwartet das Gegenteil erbracht: Je höher der Anteil der Frauen bei den Bachelor-Abschlüssen, desto stärker ist die Leaky Pipeline ausgeprägt. So beträgt der Frauenanteil im Fach Veterinärmedizin bei den Bachelor-Abschlüssen 82 Prozent, bei den ordentlichen Professuren hingegen lediglich
27 Prozent. Der „Leak“ macht also 55 Prozentpunkte aus (siehe Abbildung links). Ähnlich sieht es im Fach Psychologie aus: Der Frauenanteil bei den Bachelor-Abschlüssen beträgt 80 Prozent, bei den ordentlichen Professuren 40 Prozent. Dies entspricht einem „Leak“ von 40 Prozentpunkten.

Im Gegensatz dazu ist im Fach Elektroingenieurwesen der Frauenanteil bei den Bachelor-Abschlüssen zwölf Prozent und bei den ordentlichen Professuren elf Prozent. Der „Leak“ beträgt somit lediglich einen Prozentpunkt (siehe Abbildung rechts). Im Fach Informatik an der ETH Zürich gibt es keinen „Leak“: Sowohl bei den Bachelor-Abschlüssen als auch bei den ordentlichen Professuren macht der Frauenanteil zehn Prozent aus.

Insgesamt beträgt die Korrelation zwischen dem Frauenanteil bei den Bachelorabschlüssen und demjenigen bei den ordentlichen Professuren -0.82. Bemerkenswert ist, dass bei den niedrigem Frauenanteil gibt es in der Post-Doc-Phase keine nennenswerte Reduktion des Frauenanteils – anders als in den Fächern mit einem hohen Frauenanteil zu Beginn des Studiums.

Hypothesen

Wie können unsere erstaunlichen Ergebnisse erklärt werden? Aus der Literatur haben wir mehrere Hypothesen abgeleitet, die zu testen wären. Die erste Hypothese beruht auf dem sogenannten Glass-Escalator-Effekt. Dieser besagt, dass Männer von ihrem Minoritätsstatus profitieren können, Frauen jedoch nicht. Der Grund: Männern wird in Führungspositionen auch heute immer noch ein höherer Status zugewiesen als Frauen. Zudem werden Männer eher als brillant und durchsetzungsfähig angesehen. Diese stereotypen Zuschreibungen erleichtern ihnen die Karriere in frauendominierten Fächern – zum Nachteil der Frauen.

Die zweite Hypothese beruht auf Selbst-Selektions-Effekten. Diese gehen zum einen davon aus, dass Frauen in frauendominierten Fächern mehrheitlich andere Präferenzen bzw. einen anderen Lebensentwurf haben als Frauen in männerdominierten Fächern. Gemäß dieser Hypothese würden erstere größeren Wert auf die Wahlfreiheit zwischen Karriere und traditioneller Frauenrolle legen. Neuere empirische Befunde zeigen überraschenderweise, dass das Frauenbild „equal but traditional“ vor allem bei wohlhabenden Paaren zu finden ist. Frauen entscheiden sich in diesen Fällen nach dem Doktorat eher gegen eine akademische Karriere als Männer.

Hinzu kommt, dass gemäß zahlreicher empirischer Befunde Frauen durchschnittlich eine höhere Aversion gegen Turniere aufweisen als Männer. In Turnieren gewinnt immer nur eine Person und alle anderen verlieren. Dies widerspricht traditionellen weiblichen Rollenstereotypen. Im akademischen Karriereverlauf setzen Turniere – d.h. der Kampf um die wenigen Post-Doc-Stellen – vermehrt nach dem Doktorat ein. Das könnte erklären, warum der Frauenanteil in frauendominierten Fächern nach dem Doktorat besonders stark sinkt, hingegen nicht in männerdominierten Fächern.

Zum anderen geht die Selbst-Selektions-Hypothese davon aus, dass Frauen in männerdominierten Fächern häufig eine hohe Selbstwirksamkeit sowie gute familiäre Ressourcen mitbringen, beispielsweise eine egalitäre Rollenverteilung bei den Eltern. Beides erleichtert ein Studium in einer Männerdomäne, weil es hilft, den vorherrschenden Geschlechternormen entgegenzutreten.

Weitere Forschung ist nötig, um die Hypothesen zu testen. Welche der Hypothesen in welchem Ausmaß zutrifft, hat große Bedeutung für zukünftige Maßnahmen zur Milderung oder Beseitigung der Leaky Pipeline. Schon heute müssen viele der gegenwärtigen Maßnahmen im Lichte unserer bisherigen Ergebnisse zu den fachspezifischen Unterschieden in Frage gestellt werden.

Hier gibt es die vollständige Studie zum Download.